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Viele Kinder in Afghanistan leben in bitterer Armut - humedica hilft

Essen oder Arztbesuch?

Tageskliniken in Afghanistan helfen denjenigen, die sich medizinische Hilfe sonst nicht leisten könnten
von:
Sebastian Zausch
Vor allem KInder leiden unter den Bedingungen in Afghanistan. Viele hungern.

Viele Menschen in Afghanistan stehen regelmäßig vor der Entscheidung: Eigentlich brauchen sie oder ihre Angehörigen dringend medizinische Hilfe. Wenn sie diese aber in Anspruch nehmen, hat ihre Familie nicht mehr genug Geld, um Essen zu kaufen. humedica unterstützt in Afghanistan zwei Tageskliniken, die Menschen kostenlos behandeln, die sich keinen Arztbesuch leisten können.

Ismat * geht jeden Tag Reisig sammeln. Einen festen Job hat er nicht – wie die meisten hier. Das Gestrüpp verkauft er auf dem Markt. Reisig heizt gut. Mit dem Erlös aus dem Verkauf hofft er, sich und seiner Familie das kaufen zu können, was sie für das tägliche Leben benötigen. Viel ist das nicht – der 29-Jährige ist froh, wenn alle etwas zu essen haben. Krank werden sollten sie besser nicht. Die Behandlung durch einen Arzt kostet viel Geld – Medikamente ebenfalls. Eine Krankenversicherung gibt es in Afghanistan nicht. Und so stehen Familien wie die von Ismat regelmäßig vor der Entscheidung: Essen oder Arztbesuch?

Ismat ist froh, wenn seine Familie genug zu essen hat.

Heute stellte sich die Frage nicht. Ismat sitzt mit heftigen Bauchschmerzen im Wartezimmer einer von humedica unterstützten Klinik am Rande von Kabul. Das Gute daran: Dank der Spenden aus Deutschland ist die Klinik in der Lage, Patienten, die sich keine Behandlung leisten können, kostenlos zu behandeln. Ismat ist nicht allein. Das Wartezimmer der Klinik ist voll. Die Menschen warten geduldig. Wie für Ismat ist sie ihre einzige Chance, die Beschwerden behandeln zu lassen. 

Schlechte Qualität des Trinkwassers hat viele krank gemacht

Pul-e Charki ist ein Vorort Kabuls, wie es viele gibt. Hier wohnt vor allem die arme Bevölkerung. Schon unter der Vorgängerregierung fehlten die Mittel, den Menschen zu helfen und so fehlt es an allem. Besonders die schlechte Qualität des Wassers macht den Menschen zu schaffen. Es hat viele von ihnen krank gemacht. Auch der 65-Jährige Turialayi ist deshalb in die von humedica unterstützte Klinik gekommen. Seine Nieren sind geschädigt, darum muss er regelmäßig behandelt werden und Medikamente bekommen. 

Turialay bekommt in der von humedica unterstützten Klinik Hilfe

„Wenn es diese Klinik nicht gäbe, die Menschen kostenlos behandelt, wären die Probleme in unserem Vorort noch viel schlimmer,“ mutmaßt er und führt aus: „Viele Menschen müssten mit diesen schrecklichen Schmerzen leben und sie einfach ertragen. Einige würden vermutlich an dem dreckigen Wasser sterben.“

Lebensmittel kann sich kaum jemand leisten

Turialay war Beamter, verlor mit dem Regimewechsel vor zweieinhalb Jahren aber seinen Job. Seitdem versucht er, gemeinsam mit seiner Frau und seinen drei Kindern über die Runden zu kommen. Die Inflation in Afghanistan ist hoch, eine der höchsten weltweit. Zwar gibt es ausreichend Lebensmittel in dem Land – die kann sich aber aufgrund ständig steigender Kosten kaum jemand leisten – erst recht nicht in Pul-e Charki. „Einer meiner Söhne ging in den Iran, um dort zu arbeiten. Das hat eine Zeit lang funktioniert, doch dann wurde er abgeschoben“, erzählt Turialay. Seitdem schlägt sich die Familie so durch. Durch ein schweres Erdbeben vor zwei Jahren verlor sie zudem ihr Haus. „An Wiederaufbau ist leider nicht zu denken“, berichtet Turialay. „Das können wir uns nicht leisten.“ Deshalb verließ die Familie ihre Heimat, um in Kabul unter schwierigsten Bedingungen neu anzufangen. 

Thurialay mit seiner Familien in ihrem Haus

So wie Turialay und Ismat geht es vielen Menschen. Auch Yousuf sitzt im Wartezimmer der Klinik. Er kommt regelmäßig hierher, um sauberes Trinkwasser in seine Flaschen zu füllen. Heute ist er aber wegen der Behandlung seiner Tochter hier. Sie hat sich vor ein paar Tagen mit kochendem Wasser verbrüht, seitdem müssen die Wunden kontinuierlich versorgt und die Verbände gewechselt werden. „Ich bin sehr dankbar, dass es diese Klinik gibt. Sie ist zu einem wichtigen Rettungsanker für uns und viele andere Menschen hier geworden“, erklärt er. Früher war Yousuf als Fahrer bei einer örtlichen Fabrik beschäftigt. Als das Regime wechselte und die Wirtschaft ins Taumeln geriet, verlor er von einem Tag auf den anderen seinen Job. Seitdem reinigt seine Familie Pinienkerne – das reicht aber kaum, um die Eltern und die acht Kinder zu ernähren. Eine medizinische Behandlung der Brandwunden seiner Tochter bezahlen zu müssen, wäre der Genickschlag für die Familie. 

Youssufs Tochter kam mit Brandwunden in die Klinik. Hier wurde sie medizinisch versorgt und erhielt Medikamente

Die Hilfe von humedica wird dringend gebraucht

„Afghanistan befindet sich in einer Abwärtsspirale, die sich rasant dreht“, erklärt Andreas Dürr, Länderkoordinator für Afghanistan bei humedica. „Die Preise steigen aufgrund der hohen Inflation ständig. Gleichzeitig haben immer weniger Menschen genug Einkommen, um ihre Familien zu ernähren.“ Rund die Hälfte der afghanischen Bevölkerung hungert. „Bettelnde Kinder gehörten schon immer zum Kabuler Straßenbild“, weiß Dürr. Doch er stellt auch fest: „In den letzten Jahren wurden es deutlich mehr. Und die Zahl derer, die Almosen geben können, sinkt gleichzeitig. Das ist eine fatale Entwicklung.“ 

humedica ist seit drei Jahren in Afghanistan tätig, startete das Engagement dort kurz vor dem Abzug der westlichen Streitkräfte. „Wir sehen jeden Tag, wie wichtig es ist, dass wir dort sind, wie dringend unsere Hilfe gebraucht wird“, erklärt Dürr. Dabei kennt er auch die Schwierigkeiten, die mit der Hilfe verbunden sind: „Die Kliniken haben kaum eine Chance, sich finanziell selbst zu tragen, wenn sie kostenlose Behandlungen anbieten. Andererseits kann kaum jemand diese Behandlungen bezahlen. Das Land ist vom internationalen Zahlungsverkehr abgekoppelt. Unsere Partner mit den nötigen finanziellen Mitteln auszustatten, ohne offizielle Sanktionen zu verletzen, ist eine große Herausforderung.“ Auch ist es schwierig, Frauen aufgrund ihrer eingeschränkten Bewegungsfreiheit überhaupt ausreichenden Zugang zu Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Immerhin dürfen sie wenigstens im Gesundheitsbereich arbeiten. „Mehr als die Hälfte der Menschen, denen wir helfen, sind Frauen. Ohne weibliche Kräfte hätten wir jeglichen Zugang zu ihnen verloren“, erläutert Dürr. 

Frauen als wichtige Säule der Arbeit

Ohne weibliche Ärztinnen könnte man die Hälfte der Patientinnen in der von humedica unterstützten Klinik in Afghanistan nicht erreichen

Eine dieser Frauen ist Dr. Samira. Sie arbeitet bereits seit 12 Jahren für die Klinik und kümmert sich darum, Frauen zu schulen, wie sie Krankheiten bei sich und ihren Kindern vermeiden – zum Beispiel durch eine nahrhafte und ausgewogene Ernährung. Auch die Impfkampagne für Mütter und ihre Säuglinge wird von einer Frau geleitet, wie noch andere Arbeitsbereiche der Klinik. Gynäkologin Dr. Rihab ist sicher: Ein Großteil ihrer Patientinnen könnten sich die medizinische Behandlung nicht leisten. Das Leben der Frauen und ihrer Kinder wäre in Gefahr. 

Darf eine Organisation wie humedica eigentlich in einem Land wie Afghanistan arbeiten, dessen de-facto Regierung vom Westen als Terrororganisation eingestuft wird und das zahlreichen Sanktionen unterworfen ist? „Auf jeden Fall“, findet Dürr. humedica arbeitet nach den international anerkannten humanitären Prinzipien. Diese sehen vor, dass die Menschen Hilfe bekommen, die sie am dringendsten benötigen, unabhängig von Alter, Geschlecht, Religionszugehörigkeit oder politischen Gegebenheiten. „Wir als Helfer sehen nur den Menschen, der unsere Hilfe benötigt und suchen Wege, diese Hilfe zu leisten. Dabei halten wir uns in politischen oder religiösen Fragen absolut neutral.“ 

*alle Namen von Betroffenen wurden in diesem Artikel geändert